Rabbiner und Imam: Leben in einer Zeit des religiösen Analphabetismus

Von Naz Kücüktekin und veröffentlicht im Kurier am 17/12/2022


Schlomo Hofmeister ist seit 2008 Gemeinderabbiner von Wien. Tarafa Baghajati ist Imam sowie Obmann der „Initiative muslimischer ÖsterreicherInnen“. Sie setzen sich beide als Teil des „Muslim Jewish Leadership Council“ für interreligiösen Dialog ein. Der KURIER traf die beiden bei der Konferenz „European Policy Dialogue Forum“, um über die Herausforderungen für Religionsgemeinschaften,  Spiritualität und Konflikte zu sprechen.

KURIER: Ein Rabbiner und ein Imam an einem Tisch. Ein Bild, das noch immer ungewöhnlich wirkt. Warum eigentlich?

Schlomo Hofmeister: Weil viele Witze so beginnen… Aber es ist einfach unerwartet. Im Prinzip sind das alles interreligiöse Zusammenkünfte.

Tarafa Baghajati: Viele haben automatisch Konflikte und insbesondere den im Nahen Osten vor Augen. Hinzu kommt, dass wir in Österreich beide einer Minderheit angehören. Und manche denken, uns irgendwie zusammenbringen zu müssen. 

Hofmeister: In unserer westlichen Gesellschaft gibt es oft auch die Annahme, dass religiöse Menschen intolerant sind und von anderen nichts wissen und nichts wissen wollen.

Sprich, Außenstehende bekommen gar nicht mit, dass ohnehin Kommunikation stattfindet?

Hofmeister: Nicht alles, worüber die Öffentlichkeit spricht, findet tatsächlich statt und nicht alles, was stattfindet, wird in der Öffentlichkeit besprochen. Das sind immer nur die Gipfel des Eisbergs. Die sozialen Medien haben noch mehr dazu beigetragen, dass Dinge außerhalb ihrer eigenen Proportionen wahrgenommen werden.

Inwiefern? 

Hofmeister: Auf sozialen Medien kann jeder schreiben, was er will. Wenn er die richtige Reichweite hat, wird das auch multipliziert. Das kann vollkommen außerhalb der Proportionen herausgeblasen werden. Und damit fehlen die Größenverhältnisse.

Baghajati: Dazu kommt, dass wir in einer Zeit des religiösen Analphabetismus leben. Die Menschen wissen viel zu wenig über die eigene Religion, geschweige denn über die anderen.

Manchmal hat man das Gefühl, eher das Gegenteil ist der Fall. Etwa, wenn es um Antisemitismus in muslimischen Communitys geht. 

Hofmeister: Antisemitismus ist ein großes Problem, auch in der muslimischen Community. Dagegen anzugehen heißt aber nicht einfach, nur diesen zu verurteilen, sondern auch, proaktiv Aufklärungsarbeit zu leisten. Das haben jüdische Gemeinden in ganz Europa mittlerweile verstanden.

Baghajati:  Und manche Kräfte versuchen in der Tat, Muslime gegen Juden auszuspielen. Unter anderem, um sich selber vom Antisemitismus reinzuwaschen. Da wird dann gesagt: Wir haben gar kein Problem mit dem Antisemitismus, das ist euer Problem, das ist ein Migranten-Problem, ein muslimisches Problem. Bis dahin, dass man bei den Flüchtlingen sagt, man muss Angst vor ihnen haben, weil sie Antisemitismus mitbringen. Als ob es in Europa noch nie Antisemitismus gegeben hätte. Und in diesem Sinne:  Ja, das ist die eigene Herausforderung, jegliche Diskriminierung zu erkennen und dagegen zu kämpfen.

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